Neugier und OffenheitStehenblieben

26. Juli 2015:
Über den Wert von Neugier und Offenheit

Oder: Wie mein nervöses Pferd in einem Tag gelassen wurde

Mein Pferd ist fünf Jahre alt und ich habe sie seit diesem Frühling. Sie wurde sorgfältig ausgebildet und ist grundsätzlich sehr aufmerksam und mit feinen Hilfen zu reiten. Zudem ist sie überaus unerschrocken und kreuzt ohne mit der Wimper zu zucken selbst laufende Landmaschinen oder Schnellzüge. Wir sind verletzungsbedingt mehrere Wochen lang spazierengegangen und dabei hat sie sich im Gelände absolut problemlos verhalten. Seit ich vor einigen Wochen wieder mit Reiten angefangen habe, hatte ich aber bereits beim Aufsteigen Schwierigkeiten.

Amélie wollte jeweils sofort loslaufen und das habe ich trotz beharrlichen Übens – mit Geduld, mit Lob, mit Strafe … – nicht recht in den Griff bekommen. Sobald ich halbwegs oben war stiefelte sie los und unabhängig davon, ob wir alleine oder in der Gruppe unterwegs waren, hatte sie immer bereits im Schritt ein ziemlich hohes Tempo drauf und liess sich kaum bremsen. Ich konnte zwar mit einigem Aufwand anhalten, aber darauf eilte sie so schnell weiter wie zuvor. Auch ruhiges Stehenbleiben war nur für einige Sekunden möglich. Sie ist zwar nicht durchgegangen, aber entspanntes Reiten sieht definitiv anders aus. Es war frustrierend zu sehen, wie miserabel die Kommunikation mit meinem eigentlich fein gerittenen Pferd lief. Amélie schien unter Stress zu stehen, aber alles was mir zur Lösung des Problems noch einfiel war, dass sich die Aufregung im Lauf der Zeit – hoffentlich – durch Gewöhnung irgendwann legen würde.

Zufall oder nicht, ich las das Buch «Dressage Naturally» von Karen Rohlf und da beschreibt die Autorin im Vorwort eines Kapitels, wie sie als Kind auf Ausritten ihr Pferd den Weg selber bestimmen liess ohne Einfluss zu nehmen; Einfach um zu sehen, wohin das Pferd sie tragen würde. Ich erinnerte mich an meine eigene Kindheit mit Pferden – natürlich habe ich das damals auch gemacht – und ich war neugierig, was wohl mein Pferd tun würde, wenn ich es einmal einfach machen liess. Zugegeben, ganz wohl war mir bei der Sache nicht: Mein Pferd zeigte sich ja nun nicht gerade von der verlässlichsten Seite. Was, wenn sie Richtung Strasse gehen würde? Würde sie ihr schnelles Tempo beibehalten oder etwa immer noch schneller und schneller werden und unkontrollierbar davonstürmen, wenn ich nicht eingriff? Aber die Neugier war grösser als die Vorsicht und ich hätte mir nie ausgedacht, was tatsächlich passierte ...

Ich stieg also vor dem Stall auf und griff nicht korrigierend ein, als mein Pferd sofort loslief, sondern liess sie einfach machen. Amélie drehte sich um und stellte sich schnurstracks vor die Tür des Offenstalls, wo ihre Freunde waren. Uff, das gab mir erst einmal zu denken. Da wurde mir so richtig bewusst, was mein Pferd am liebsten wollte: Nicht mit mir raus ins Gelände, sondern zuhause bei den anderen bleiben! Es musste sie ganz schön beunruhigen den Hof zu verlassen.

Ich liess sie am hingegebenen Zügel stehen, bis sie sich soweit sicher fühlte, dass sie vom Heuballen vor der Stalltür zu fressen begann. Dann fragte ich mit freundlichen Hilfen, ob wir uns ein paar Schritte vom Stall entfernen könnten. Sie machte ein paar kurze Schritte vom Stall weg und blieb stehen. Ich wartete kommentarlos ab und bat sie dann erneut, vorwärts zu gehen. Schon beim ersten Schritt gab ich bereits wieder nach und fragte erst erneut nach einem weiteren, als sie mir beide Ohren zuwandte. Mit einigem Geeier kamen wir so stockend die Auffahrt hoch, bis Amélie die Einfahrt zur Scheune entdeckte. Da ging sie schnurstrackts hin, beschnupperte einige Pflanzen, sah sich den Traktor an und wäre am liebsten auch noch an diesem vorbei in die Scheune gegangen, wovon ich sie dann aber abhielt, da es sehr eng war und der Bauer vielleicht auch nicht so davon begeistert gewesen wäre. Nach einigen weiteren Erkundungsschritten ging Amélie zurück zum Stall, wo ich sie wie zuvor eine Weile ungestört stehen liess.

Das Prozedere wiederholte sich einige Male. Wir sahen uns gemeinsam Orte an, denen ich bisher nicht die geringste Bedeutung zugemessen hatte, aber es machte Spass und war sehr spannend, mit meinem Pferd zusammen den Hof zu erkunden. Mit etwas Überredung meinerseits schafften wir es – schrittweise – in beide Richtungen mehrmals etwa zwanzig Meter vom Hof weg. Ich habe mich dabei auf meinem Pferd so sicher gefühlt wie noch nie. Sobald sie unsicher wurde, hielt sie an und blieb am hingegebenen Zügel stehen. Es war, als würde sie sich auf einmal trauen, ihre Unsicherheit offen zu zeigen, statt abzuschalten und die Runde ins Gelände nach dem Motto «Augen zu und durch» im Stechschritt hinter sich zu bringen.

Wer uns beobachtet hätte, hätte mich für einen kompletten Vollidioten gehalten, der sich vom Pferd vergackern lässt und ihm definitiv beibringt am Stall zu kleben. (Tatsächlich haben wir eine alte Dame mit zwei Shettys an der Hand gekreuzt, die ziemlich perplex war, als ich ihr erklärte, sie solle uns überholen.) Aber das Gegenteil war der Fall: Seit dem Tag bleibt Amélie beim Aufsteigen ruhig stehen und wartet, bis ich das Kommando zum Losreiten gebe. Sie kommt alleine in ruhigem Schritt mit mir ins Gelände, sie kann sich entspannen und geht sogar freiwillig langsam neben unserer Pferdeoma her. Und wenn sie unruhig wird, wartet sie ab und hört auf mich. Auf dem Heimweg von längeren Strecken wird sie manchmal immer noch etwas eiliger, aber das hält sich in einem erträglichen Rahmen. Es ist überwältigend: Mein Pferd ist wirklich wie ausgewechselt!

Was bei uns ein Wunder bewirkt hat, muss natürlich nicht bei jedem Pferd funktionieren. Aber für mich war es eine überaus wichtige Lektion: Wir denken immer, wir wüssten, wie sich das Pferd zu verhalten hat, und wann wir es korrigieren müssten. Dabei entgeht uns unter Umständen völlig, was das Pferd wirklich braucht, um tun zu können, was wir von ihm möchten. Und wenn wir das Pferd einfach einmal selber machen lassen, kann es sein, dass es selber die Lösung für eine Situation findet, die ihm Mühe bereitet.

Ich sage nicht, dass man ein Pferd einfach laufen lassen soll, wenn es zu schnell wird. Damit hätte ich bestimmt gar nichts erreicht, denn ein Pferd auf der Flucht schaltet mental ab und ist nicht mehr zu klarem Denken fähig. Wichtig war, zu sehen dass mein Pferd bereits auf dem Hof unruhig wird, und bereits diese ersten Zeichen ernst zu nehmen statt zu übergehen. Ich habe mich um die Wurzel des Problems gekümmert und konsequent abgewartet, bis Amélie sich wirklich beruhigt hatte, ehe ich sie zum Weitergehen aufforderte.
Ich habe mein Pferd auch nicht dazu erzogen, meine Hilfen zu ignorieren. Ich habe einfach nur diejenigen Hilfen gegeben, bei denen ich damit rechnen konnte, dass sie sie ausführen würde: Schritt für Schritt auf meine Nachfrage vorwärts, aber ich habe sie von Beginn weg nicht davon abzuhalten versucht, zum Stall zurückzukehren. Das wäre einerseits in Kampf ausgeartet und andererseits war die Rückkehr zum Stall ihre grösste Belohnung dafür, dass sie sich vom Stall wegtraute und ruhig blieb.

Was mir bei der ganzen Sache aber am tatsächlich am wichtigsten scheint: Einfach mal offen für fast alles bleiben, nichts Bestimmtes erwarten und der Neugier nachgehen: Dann können erstaunliche Dinge geschehen!