Reiten lernen im Gelände?

Fast jeder junge Reitanfänger äussert früher oder später den Wunsch, die Gegend hoch zu Pferd zu erkunden und nicht immer nur langweilige Runden auf dem Reitplatz zu drehen. Sollte man dem nachgeben und der Lehrer den Unterricht ins Gelände verlegen? Kann man Reiten im Gelände lernen? Ab wann ist ein Reitschüler fähig, die Schwierigkeiten eines Ausrittes selbstständig zu meistern? Und wo liegt überhaupt der Unterschied zwischen dem Reiten auf dem Platz und einem Geländeritt?

Es gibt etwas, was ganz klar gegen die allzu frühe Konfrontation eines Reitanfängers mit dem Gelände spricht: Das Gesetz. Laut diesem ist ein Reiter ein Verkehrsteilnehmer und verpflichtet, jederzeit die Kontrolle über sein Pferd gewährleisten zu können. Daran scheitert der Traum vom flotten Galopp über die Felder – ein Reitanfänger ist nicht in der Lage, sein Pferd in jeder Situation zu kontrollieren. Reiten ist schwierig, und man braucht jahrelange Erfahrung, bis einem jede Bewegung so geläufig ist, dass man schnell genug reagieren kann, um die Sicherheit von Pferd, Mitreitern und anderen Verkehrsteilnehmern zu garantieren. Auf dem Reitplatz oder in der Halle hat man die Gelegenheit, Sitz, Hilfengebung und vor allem die Reaktion so lange zu trainieren, bis man gar nicht mehr darüber nachdenken muss und sich ganz auf sein Pferd konzentrieren kann. In der begrenzten Umgebung des Reitplatzes ist es nicht schlimm, wenn man Fehler macht und man hat genügend Zeit, die nächste Handlung zu überdenken. Im Gelände dagegen kann eine falsche Reaktion oder ein zu langes Zögern unter Umständen lebensgefährlich werden.

Muss Ihr Kind nun deshalb über Jahre hinweg auf das Geländereiten verzichten? Nein! Es gibt z. B. die Möglichkeit, dass der Reitlehrer das Pferd des Kindes an der Hand mitführt (das heisst, er sitzt selbst auf einem Pferd, hält jenes Ihres Kindes jedoch an einem Strick neben sich fest). Er hat damit die Kontrolle über das Pferd und das Kind kann sich ruhig auf seinen Sitz und seine Hilfegebung konzentrieren. Das ist eine sehr schöne Art, die Landschaft auf dem Pferd zu geniessen und eine willkommene Abwechslung zum anstrengenden Unterricht auf dem Platz.

Allerdings lernt man dadurch nicht reiten! Das Reitpferd des Kindes wird immer das selbe tun wie jenes des Reitlehrers, es kann ja nicht anders. Deshalb kann das Kind seine Hilfegebung nicht anhand der Reaktion des Pferdes kontrollieren und auch nicht feststellen, wenn es etwas falsch macht. Muss es dann doch einmal alleine reiten, wird es feststellen, dass es sich seinem Pferd nicht mitteilen kann. Ausserdem ist es für den Reitlehrer schwierig, Korrekturen anzubringen, wenn er sich gleichzeitig auf zwei Pferde und einen Reitschüler konzentrieren muss. Es ist also nötig, jede neue Lektion erst mal auf dem Platz oder in der Halle so lange zu üben, bis sie einigermassen sitzt. Im Gelände kann sie dann weiter gefestigt und erweitert werden.

Aber ab wann ist ein Reitschüler nun sicher genug, sich zwar in Begleitung seines Reitlehrers aber ohne zusätzliche Sicherheitsmassnahmen (mitführen an der Hand) ins Gelände wagen zu können? Natürlich kann diese Frage nicht pauschal beantwortet werden. Was ein Reitschüler für den ersten Ausritt beherrschen muss, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, z. B. von Charakter und Ausbildungsstand des Pferdes oder den individuellen Ansprüchen des Geländes. Auf gar keinen Fall kann man sagen, nach wie vielen Reitstunden die nötigen Fertigkeiten erreicht werden. Je nach Art des Unterrichts, den persönlichen Neigungen und Talenten variiert das zwischen einigen wenigen Wochen und mehreren Jahren. Folgende Punkte können jedoch als ungefähre Richtlinien dienen:

Anzumerken wäre hier vielleicht noch, dass man keine Angst haben sollte, wenn man selbstständig ausreitet. Denn erstens überträgt sich die Angst unweigerlich auf das Pferd, und zweitens führt sie zu einer Blockade, die eine entscheidende Reaktion im richtigen Moment verhindern könnte. Ganz abgesehen davon, dass Reiten mit Angst keinen Spass macht. Aus diesen Gründen sollte Ihr Kind den Mut haben, zu sagen, wenn es sich vor etwas fürchtet oder sich aus irgendeinem Grund nicht wohl fühlt. Gerade bei den ersten Ausritten ist es ganz normal, sich zu fürchten. Angst ist ein Zeichen von Überforderung, und der Reitlehrer kann darauf reagieren, indem er die Anforderungen zurückstuft. Z. B. könnte er das Kind wieder an der Hand mitführen, bis es sich sicher fühlt. Auf gar keinen Fall sollte er es seiner Angst einfach überlassen, denn letztendlich verliert das Kind so nur das Selbstvertrauen.

Fühlt sich das Kind beim Ausreiten auch ohne Hilfestellung sicher, kann man den Reitunterricht getrost ins Gelände verlegen. Dies ist sogar ganz sinnvoll, denn schliesslich wollen die meisten Leute, vor allem Kinder, ja hauptsächlich Geländereiten. Da ist es nur logisch, dies auch zu üben. Man kann eigentlich alle Lektionen, die man auf dem Platz durchführt, auch im Gelände praktizieren. Bei mehreren Reitern lassen sich auch zusätzliche, spannende Aufgaben einbauen, die Geschicklichkeit, Umsicht und Rücksicht erfordern, also genau das, was man beim «normalen» Geländereiten und überhaupt im Umgang mit Pferden braucht.

Trotzdem ist es anzuraten, hin und wieder eine Reitstunde auf dem Platz durchführen. Denn gerade neue, vielleicht eher schwierige Lektionen, z. B. das Springen, lassen sich auf einem begrenzten Platz sehr viel besser erlernen als im Gelände, wo man sich viel stärker auf das Pferd und die Umgebung konzentrieren muss. Und für den Reitlehrer ist es einfacher, zu korrigieren, wenn er voll und ganz auf Reiter und Pferd achten kann. Ausserdem muss man auf dem Platz exakter arbeiten, was die Voraussicht und das Feingefühl erhöht.

Auf gar keinen Fall sollte man zulassen, dass aus dem Geländereiten ein reines «Durch-die-Landschaft-Bummeln» ohne jegliche Korrekturen des Lehrers oder zusätzlichen Übungen wird. Eine solide Ausbildung ist nämlich mit den oben genannten Punkten noch lange nicht abgeschlossen. Ausserdem schleichen sich auch beim besten Reiter immer wieder Fehler ein, und beim «fortgeschrittenen Anfänger» muss das Reiten, wird er nicht permanent auf seine Fehler hingewiesen, unweigerlich in einen laschen, unsauberen, für das Pferd unangenehmen und letztlich auch gefährlichen Reitstil ausarten. Aus diesen Gründen sollten auch im Gelände immer wieder der Geist und das Koordinationsvermögen ihres Kindes gefordert werden. Bemerken Sie, dass das Kind seit Wochen nichts Neues dazugelernt hat, sollten Sie den Unterrichtsstil des Reitlehrers unbedingt überprüfen. Aber natürlich muss hin und wieder auch ein reiner Spass-Ausritt sein, und dagegen ist auch gar nichts einzuwenden, so lange es nicht zur Gewohnheit wird.

Fazit

Eine Ausbildung ganz ohne Reithalle oder -platz ist verantwortungslos und kann kaum zu wirklich gutem Reiten führen. Jedoch spricht nichts gegen einen Unterricht im Gelände, wenn die Grundausbildung bereits gefestigt ist.

Verfasserin dieses Artikels: Eva Inauen